Die Kinder aus der Babyklappe - Südkurier 28.02.2015

➤ Wie sich Behörden und private Helfer nun doch noch annähern

➤ Was aus den vier Säuglingen aus der Singener Einrichtung wurde

➤ Was für und wider die Klappe beim Krankenhaus spricht

Eine halbe Minute kann lang sein. Und sie kann viel über das ganze Leben eines Menschen entscheiden. Vor der Rettungswache des Roten Kreuzes in Singen, direkt an der Durchgangsstraße beim Krankenhaus, gab es die vergangenen fünf Jahre mindestens vier halbe Minuten, die quälend lang waren. Für vier Mütter, die sich in diesen 30 Sekunden nochmals entscheiden mussten, ob sie ihr neugeborenes Baby behalten oder für immer in fremde Hände geben wollten.
Diese vier Frauen haben sich entschieden. Sie legten ihr Kind in die Wärmekammer der Singener Babyklappe, deckten es ein letztes Mal zu, vergossen ganz bestimmt dabei Tränen – und schlossen dann die Klappe an der Rotkreuz-Wache. 30 Sekunden begannen dann zu ticken. So lange dauert es in Singen, bis nach der Schließung der Babyklappe die nahe gelegenen Klinik-Kräfte automatisch alarmiert werden, dass sich an der Klappe etwas getan hat. Vielleicht ein Kind darin liegt.
„Wie viele Frauen sich in diesen letzten Augenblicken doch noch einmal umentschieden haben und ihr Kind in letzter Sekunde wieder aus unserer Klappe geholt haben, wissen wir nicht“, schildert Rudolf Babeck, neben Hans Teschner einer der beiden Väter der Rettungseinrichtung. Wenn nach der Alarmierung kein Kind im Körbchen der Kammer gefunden wird, läuft das als Fehlalarm. „Die gibt es öfter, sind aber auf technische Störungen zurückzuführen, denn die Technik ist sensibel“, schildert Hans Teschner aus Stockach, der sich mit dem Singener Rudolf Babeck im Verein Widmann hilft Kindern in der Region engagiert.
Oftmals löst auch Neugier Alarm aus. „Wir haben immer wieder Menschen, die sich die Klappe mal ansehen wollen, öffnen, und damit einen Alarm auslösen“, erzählt Babeck. Die Neugier der ersten Jahre, nachdem die Klappe 2010 in privater Regie des Vereins eröffnet wurde, habe sich aber zwischenzeitlich gelegt, sagt Teschner.

Zusammenarbeit im Dienst der Kinder
Überhaupt hat sich die vergangenen fünf Jahre rund um die Klappe einiges verändert. Für viele ist sie zur Normalität geworden, eine Alltäglichkeit, über die kaum noch gesprochen wird. Außer, wenn wieder ein Kind darin liegt. Vier Säuglinge wurden bereits abgelegt: 2011 der erste, zwei im Jahr 2012 und ein Kind 2014. „Das ist jedes Mal ein bisschen wie Vater zu werden“, schildert Rudolf Babeck nicht ohne Stolz. „Ein unbeschreibliches Gefühl, ein Menschenleben vielleicht gerettet zu haben“, ergänzt Teschner. Sie erinnern sich dabei an einen schrecklichen Fall im Hegau, bei dem eine Mutter ein noch lebendes Neugeborenes in einer Plastiktüte im Wald bei Engen ablegte. Das Kind erfror und löste eine Welle der Unterstützung für die Babyklappe aus, die vielen allerdings gar nicht geheuer war.
Das Staatliche Jugendamt etwa sah und sieht die Babyklappen äußerst kritisch. „Es gibt einfach keine klaren gesetzlichen Bestimmungen, das macht es so schwierig“, sagt Sabine Senne, die Leiterin des zuständigen Jugendamtes aus Konstanz. Sie und viele Fachleute warnen vor negativen Folgen für die Kinder aus solchen Klappen. „Die vier Kinder, die in Singen abgegeben wurden, werden nie erfahren, wer ihre richtigen Eltern sind“, sagt Sabine Senne. Die vier Mütter haben sich nach der Abgabe ihrer Babys nie mehr gemeldet. Auch wenn sie rechtlich acht Wochen Zeit hatten, beim Jugendamt vorzusprechen und ihr Kind zurückzuholen. „Man weiß nichts über die Mütter“, sagt Senne.
Auch über die Kinder wird wenig publik. Nicht mal die Betreiber der Babyklappe erfahren, wohin sie kommen. „Es geht allen vier Kindern gut, wir haben Austausch mit den Adoptiveltern“, verrät Senne zumindest. Mehr darf und will sie nicht sagen. Wenn die Eltern das Babyklappen-Kind adoptiert haben, sind sie nicht mehr verpflichtet, beim Jugendamt Bericht zu erstatten. Das Kind beginnt dann ein neues Leben in einer neuen Familie.
Teilweise, so die Informationen unserer Redaktion, sind die Kinder im Kreis Konstanz zuhause, teils aber auch in Nachbarlandkreisen, im Raum Rottweil. Insider berichten, dass sie in gute Hände kamen, sie eine glückliche Zukunft zu erwarten hätten. Das macht wiederum Rudolf Babeck und Hans Teschner glücklich.
Nach fünf Jahren hat sich auch die Zusammenarbeit zwischen Babyklappen-Verein und den kritisch eingestellten Fachstellen entspannt. Nachdem es anfangs mehr als eisig zuging, sich beide Seiten fast spinnefeind waren, herrscht nun ein erträgliches Arbeitsklima. „Zu Beginn hat es geknistert, aber nun läuft die Kooperation super“, sagt Sabine Senne. Und auch der Verein hat dazugelernt. Er nimmt sich etwas zurück, drängt nicht mehr so stark in die Öffentlichkeit. Dennoch wird die Klappe von vielen Bürgern, Gruppen, Vereinen und Firmen stark unterstützt.
„Wir machen weiter“, sagt Babeck. „Die Klappe kann jeden Tag ein Menschenleben retten. Vielleicht schon heute oder morgen.“

So werden die Babys aus der Singener Klappe in Empfang genommen: Rudolf Babeck (li.) und Hans Teschner vom BabyklappenVerein auf der Innenseite der Rettungswache.
Hier begann schon für vier Kinder ein neues Leben: Die Babyklappe nahe des Singener Krankenhauses, bei der DRK-Wache. Seit fünf Jahren ist sie in Betrieb.